Das goldene Tor

Von San Francisco bis Point Reyes

Prolog

Die Luft riecht verbrannt. Weiter nördlich, im Napa Valley und rund um Sonoma, brennt der Wald. Der Rauch färbt das Sonnenlicht in tiefes Orange. Im Westen ist schemenhaft die wohl berühmteste Brücke der Welt zu erahnen. Glücksuchende, die zur Zeit des Goldrausches die Meerenge passierten, gaben ihr den Namen – das goldene Tor. 

„Sollen wir über die Bucht fliegen?"

Es klingelt. Der Wecker reißt mich aus dem Schlaf. Sechs Uhr. Auf meiner inneren Uhr ist es 3 Uhr. In der Nacht oder am Nachmittag – so genau lässt sich das nicht mehr feststellen. Nach dem langen Rückflug von Kailua-Kona, Hawaii nach San Francisco mit einer Boeing 757 macht sich das Schlafdefizit der letzten Tage und die mehrmalige Zeitumstellung (Europa – Hawaii: -12 Stunden; Hawaii – San Francisco: +3 Stunden) schmerzhaft bemerkbar. Zwei Espressi später fühle ich mich einigermaßen fit.

Der Zufall wollte es, dass ich bei meinem USA-Stipendium 2009 Bill Couch kennen gelernt hatte, der damals noch bei der Tageszeitung „USA Today" arbeitete. Kurz danach brach Bill seine Zelte an der Ostküste ab und zog berufsbedingt nach San Francisco um. Praktisch, denn damit stand er mir seitdem als ganz persönlicher Touristenführer zur Verfügung. Ein Umstand, von dem ich bereits bei einem Kurzaufenthalt 2016 profitieren durfte.

Der Kontrast zwischen Ost- und Westküste der USA könnte nicht größer sein. Drüben Hektik, hier Entspannung. Kalifornien gilt nicht nur als Wirtschafts- und Forschungsmotor, sondern vor allem als der liberalste Bundesstaat der USA. „Easy West Coast Living“ – das entspannte Leben an der Westküste ist in den USA ein geflügeltes Wort. San Franciscos Stadtviertel Haight-Ashbury gilt seit den 60er-Jahren als Epizentrum der Hippie-Bewegung.

"Holzfällerhemd, Baseball-Kappe, Mitte 60 
und eine beispiellose Frohnatur."

Ein kurzes E-Mail genügte, um Bill für die Idee zu begeistern, einen Flug in San Francisco zu organisieren – „Bill, sollen wir über die Bucht fliegen?" Da zwei seiner Freunde mit eigenen Flugzeugen gerade nicht verfügbar sind, landen wir mit unserer Recherche bei den „Bay City Flyers“, einer Flugschule in Hayward auf der anderen Seite San Franciscos, die über eine große und moderne Flotte aus Diamond DA40, DA42 und Citation Mustang Jets verfügt.

Hayward Executive ist zwar der kleinste Flugplatz in der Umgebung San Franciscos, fast 90.000 Flugbewegungen im Jahr sprechen aber eine deutliche Sprache. Merke: Was in den USA als „klein“ gilt, geht bei uns in Europa problemlos als mittelgroßer Verkehrsflughafen durch.

Eine E-Mail später ist auch das Flugzeug reserviert und der Safety Pilot gebucht. Obwohl ich über eine gültige amerikanische PPL verfüge, will ich vor allem einen entspannten Flug erleben und unnotwendigen Stress im vollen Luftraum rund um die Metropole vermeiden. Für das „Check out“ vor der Anmietung eines Flugzeugs wäre aber ohnehin keine Zeit.

Bill holt mich mit einem "ZipCar" ab. Die Autos stehen über San Francisco verteilt und man kann sie mit gültigem Führerschein stundenweise anmieten. Nach exakt 30 Minuten Anfahrt über die Bay Bridge begrüßt uns in einem Ziegelsteingebäude der „Bay City Flyers“ Mike Korklan, der so aussieht, wie man sich einen amerikanischen Fluglehrer vorstellt: Holzfällerhemd, Baseball-Kappe, Mitte 60 und – das sollte sich schnell herausstellen – eine beispiellose Frohnatur.

Wir verstehen uns auf Anhieb und briefen kurz die Route vom Hayward Executive Airport (KWHD) zur Innenstadt von San Francisco, weiter zum Leuchtturm von Point Reyes und dann zurück. „Du fliegst und genießt die Aussicht, ich navigiere“, schlägt Mike vor. Bill und ich nicken. Genau so haben wir uns das Unternehmen vorgestellt.

„Du fliegst und genießt die Aussicht, ich navigiere", 
 schlägt Mike vor. Bill und ich nicken. 

Wir schnappen uns die bereitgestellten Headsets, öffnen das Tor zum Apron und gehen die wenigen Schritte zur Abstellfläche, wo mehrere DA40 und DA42 nebeneinander parken. 

Mike und ich absolvieren gemeinsam den Außencheck an der DA40 XL, einer Weiterentwicklung der „normalen" DA40 mit noch bequemeren Sitzen, mehr Speed, größerem Gepäcksfach und G1000-Glascockpit mit Synthetic Vision und Traffic Alerts. Mike ist rund um und in Flugzeugen aufgewachsen: PPL mit 16 Jahren („Meinen ersten Alleinflug habe ich unter Bedingungen gemacht, für die man dich heute als Instruktor einsperren würde.), danach Berufspilot und jetzt eben Fluglehrer mit rund 50 Jahren Erfahrung.

Bill macht es sich auf dem Rücksitz bequem und rückt seine beiden Kameras zurecht. Eine wunderschöne und leider sehr teure Leica Digital und eine Canon-Spiegelreflex mit großem Zoom liegen bereit. Ich arbeite inzwischen die Checklisten ab. Der Lycoming-Motor springt problemlos an und nach dem Warmlaufen erbittet Mike auf der Ground-Frequenz die Rollfreigabe, die uns zur Runway 10R führt.

Die Controller sind professionell und amerikanisch entspannt. Statt einer etwas umständlichen Startprozedur mit einem Midfield-270 Grad-Turn koordiniert der Turm bereitwillig einen direkten Abflug in den Luftraum des benachbarten Oakland International Airports (KOAK). Drei relativ große Flughäfen – auch San Francisco International (KSFO) ist nur einen Steinwurf entfernt – auf so engem Raum, gibt es wohl nur in den Vereinigten Staaten. Ich bin in dem Moment umso dankbarer, Mike als Safety im Cockpit zu haben.

„Cleared for take off Runway 10 Right. Wind 340 at 2.“ Ich schiebe langsam den Gashebel nach vorne. Die DA40 nimmt zügig Fahrt auf und löst sich wenig später fast wie selbst vom Boden. Mike deutet mit dem Finger nach links und wir drehen über eine Linkskurve in den Gegenanflug auf die Piste. Erst aus der Luft ist die dicke Rauchschicht weiter oben deutlich zu erkennen, die sich wie ein Teppich über die Bucht legt. In unserem Rücken hängt die Sonnen als blutrote Scheibe – eine dystopische Szene.

"Ich lege die DA 40 in eine flache Kurve. Auf der gegenüberliegenden Seite taucht schemenhaft die Innenstadt San Franciscos mit den markanten Hochhäusern auf."

Wir drehen auf ein nordwestliches Heading und steigen auf 2000 Fuss. Damit sind wir deutlich unter dem Bravo-Luftraum des benachbarten San Francisco International Airport und nehmen Kontakt mit Oakland auf. Wir dürfen problemlos praktisch direkt neben dem Airport queren. Durch die hohe Dichte der Flughäfen führen einen die meisten Lotsen in den USA so nahe wie möglich an die eigene Piste heran. Die Logik dahinter: Dort stört man den an- und abfliegenden Verkehr am wenigsten. Wir halten unsere Höhe möglichst exakt und schauen den landenden Jets aus der ersten Reihe zu.

Wieder ein Fingerzeig von Mike – Westkurs. Ich lege die DA 40 in eine flache Kurve und auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht taucht schemenhaft die Innenstadt San Franciscos mit den markanten Hochhäusern auf. Zu unserer linken Seite befindet sich jetzt Treasure Island, weiter vorne rechts Angel Island. Die Insel in Bucht galt in den Jahren 1910 bis 1940 als das „Ellis Island" der Westküste. Über eine Million Menschen – hauptsächlich aus Asien – erreichten an dieser Stelle Amerika in der Hoffnung auf ein besseres Leben. 

Eine ganz andere Geschichte hat hingegen „The Rock“ – wie Alcatraz spätestens seit dem gleichnamigen Spielfilm mit Sean Connery genannt wird – geschrieben. Die Insel wurde bis in die 1960er-Jahre als Standort für das berühmt-berüchtigte gleichnamige Gefängnis genutzt.

"Dann sehe ich die Brücke. Zwei mächtige Pylone, lange Stahlseile, das markante Orange kontrastierend mit dem Meer."

Dann sehe ich die Brücke. Zwei mächtige Pylone, lange Stahlseile, das markante Orange kontrastierend mit dem Meer im Hintergrund. „My controls" sagt Mike lächelnd als ich mein iPhone für Fotos zücke und ich überlasse ihm gerne die Steuerung unseres Flugzeugs, das er in einer großen Schleife um die Golden Gate Bridge kreisen lässt. Es ist ein perfekter Moment, der sich in mein Gedächtnis einbrennt. Sogar Mike, der die „Bay Tour“ wohl schon hunderte Male geflogen ist, seufzt ein leises „wow.“

Ich übernehme den Flieger wieder und mein Copilot deutet auf die Wolkenkratzer vor uns: „Die schauen wir uns jetzt von oben an.“ Zwei Minuten später sind wir dann über den grauen Türmen, die wie Finger in den Himmel ragen. Gesperrter Luftraum: negativ, wir dürfen uns unterhalb von 2000 Fuss praktisch frei bewegen. Uns macht es so viel Spaß – und Bordfotograf Bill am Rücksitz bittet um zusätzliche Zeit – dass wir insgesamt drei Vollkreise mitten über der Innenstadt der Millionenstadt drehen.

30 Minuten sind wir erst in der Luft, es fühlt sich an wie eine halbe Ewigkeit. Ich glaube diese Wahrnehmung entsteht aus der Diskrepanz der Geschwindigkeiten mit der wir Dinge erleben und bewusst verstehen können. Ich nehme die Golden Gate Bridge, die Stadt und die Wellen draußen vor Point Reyes wahr, wirklich verstehen werde ich diese Bilder erst Tage später. Meine Erinnerungen werden real als ich wieder und wieder durch die Fotos und Videos blättere.

"Uns macht es so viel Spaß – und Bordfotograf Bill am Rücksitz bittet um zusätzliche Zeit – dass wir insgesamt drei Vollkreise mitten über der Innenstadt drehen."
Downtown San Francisco. Im Hintergrund die Bay Bridge.

Es geht der Küste entlang: Gull Rock, Bolinas, Chimney Rock. Wenige kleine Städte, zerklüftete Abhänge – vorne weiter lässt sich Point Reyes erahnen. Vor uns breitet sich der Nationalpark „Point Reyes National Seashore" aus. 290 Quadratkilometer, die seit den 60-er Jahren unter strengem Naturschutz stehen. Ganz vorne an einer Klippe steht der Leuchtturm von Point Reyes, der 1870 in Betrieb genommen wurde und heute einer der beliebtesten Touristenattraktionen der Region ist.

Bill übernimmt erneut und legt die DA40 in eine bemerkenswerte Steilkurve. Unter meinem Flügel dreht sich der historische Bau, der gleichzeitig zum symbolischen Wendepunkt für unseren Flug wird. Trotz Motorenlärm höre ich wie Bill ein Foto nach dem anderen knipst, während unten das Meer tosend an die Felsen schlägt.

Trotz Motorenlärm höre ich, wie Bill ein Foto 
nach dem anderen knipst, während 
 nten das Meer tosend an die Felsen schlägt.

Exakt 45 Minuten sind erst seit unserem Start vergangen. Der Rückflug zur Golden Gate verläuft schnugerade, nach 10 Minuten sind wir wieder in der Nähe der Stadt und erbitten das Queren der entsprechenden Lufträume von Norcal Radar und Oakland Radar. Erneut werden wir auf dem gewünschten Routing durchgeschleust und fliegen an Alcatraz vorbei und direkt über Treasure Island zurück Richtung Oakland. Wie vom Lotsen aufgetragen bleiben wir nördlich des Highway 880 und gehen dann in den Downwind. 

Nach einer Stunde und 10 Minuten setze ich die DA40 mit einer meiner besseren Landungen auf der Piste 28 Left auf und rolle langsam aus. Tage später höre ich mich auf dem Video sagen: „That was beautiful." Neben mir nickt Mike.

EPILOG

Das Cheese Board Collective ist an diesem Dienstagnachmittag voll besetzt. An einer schwarzen Tafel stehen die zwei Sorten Pizza, die heute das Mittagsmenü bilden. Das Lokal ist eng und alle Tische sind voll. Wie die Band es geschafft hat, noch Platz zu finden, ist ein kleines Wunder. Wir waren zumindest rechtzeitig. Hinter uns formt sich bereits eine lange Schlange. 

Mit dem Pizzakarton in der Hand setzen wir uns in den improvisierten Gastgarten an der Shattuck Avenue von Berkeley. „Oh, I could hide 'neath the wings of the bluebird as she sings" hört man von drinnen. Die Band spielt “Daydream Believer”.

Den Flug als Video gibt es hier auf YouTube. (2 Minuten, 30 Sekunden)

Come, my friends,'Tis not too late to seek a newer world.  Push off, and sitting well in order smite  The sounding furrows; for my purpose holds  To sail beyond the sunset, and the baths  Of all the western stars, until I die.
Alfred Lord Tennyson – Ulysses